Institution
Der Kunstverein Reutlingen ist ein Ort zeitgenössischer Kunst- und Diskursproduktion. Das Ziel ist es, bildende Kunst der Gegenwart einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und zu vermitteln und zur aktiven Teilhabe an kulturellen Prozessen einzuladen. Die rund 800m² Ausstellungsfläche bieten Raum für gesellschaftstheoretische Diskurse und neue künstlerische Tendenzen. Der Kunstverein Reutlingen ist Mitglied der ADKV (Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine).
Geschichte
Das historische Gebäudeensemble beherbergte einst die 1869 gegründete Metalltuch- und Maschinenfabrik Christian Wandel.
Gründung und NS-Vergangenheit
Im Jahr 2023 jährt sich die Gründung des Kunstvereins Reutlingen zum 70sten Mal: ursprünglich bereits 1922 in Frankfurt gegründet und während des Dritten Reiches ohne Aktivitäten, wurde der Verein 1953 als „Hans-Thoma-Gesellschaft“ neu konstituiert und der Sitz der Gesellschaft anschließend von Frankfurt nach Reutlingen verlegt. Gründer, Präsident und Geschäftsführender Vorsitzender war von 1953 bis 1978 Alfred Hagenlocher (1994-1998). Während seiner Amtszeit konzipierte er zahlreiche Ausstellungen mit vorwiegend regionalen Künstlerinnen und Künstlern sowie mit denjenigen, die im Nationalsozialismus als entartet galten. Doch Alfred Hagenlocher war selbst ab seinem 17. Lebensjahr Mitglied der NSDAP und der SS, ab 1937 bei der Gestapo. In seiner Funktion als Gestapo-Beamter des „Hotel Silber“ in Stuttgart sowie in vorangegangenen Positionen, ordnete Hagenlocher Einsätze an, die ihm vor der Spruchkammer die Einstufung als Hauptschuldigen einbrachten. Nach mehrfacher Berufung wurde das Verfahren im Januar 1951 eingestellt. Zahlreiche Akten belegen heute die nationalsozialistische Mittäterschaft und sind u. a. im Haus der Geschichte Stuttgart, Hotel Silber Stuttgart, im Hauptstaatsarchiv Stuttgart sowie im Bundesarchiv einsehbar. Der Kunstverein Reutlingen distanziert sich klar gegen jede Form von nationalsozialistischem Gedankengut und Diskriminierungen aller Art.
Von der "Hans-Thoma Gesellschaft" zum "Kunstverein Reutlingen"
Im Jahr 2000 erhielt die „Hans-Thoma-Gesellschaft“ zunächst die erweiterte Bezeichnung „Kunstverein Reutlingen“, seit dem Jahr 2006 heißt der eingetragene Verein nur noch „Kunstverein Reutlingen“: Mit der konsequenten Ausrichtung der Vereinsaktivitäten auf zeitgenössische Kunst unterschiedlicher Genres (Malerei, Fotografie, Installation, Skulptur, Medienkunst, Performance usw.) erschien dem Vorstand die betonte Identifikation mit dem 1839 in Bernau im Südschwarzwald geborenen Landschafts- und Portraitmaler Hans Thoma (der Anfang des 20. Jahrhunderts als „einer der Lieblingsmaler des deutschen Volkes“ bezeichnet wurde) nicht mehr angemessen.
Ausstellungsorte des Kunstvereins waren von 1953 bis 2005 das Spendhaus Reutlingen mit seiner damaligen Studiogalerie und von 1968 bis 2006 das Alte Rathaus in der Rathausstraße mit seinen 11 Kabinetten. Diese wurden über viele Jahre zur Präsentation von 11 Positionen unterschiedlicher Künstler:innen im Rahmen einer Jahresschluss-Ausstellung genutzt. Im Jahr 2006 ermöglichte der Gemeinderat der Stadt Reutlingen auf Initiative der damals amtierenden Oberbürgermeisterin Barbara Bosch dem Kunstverein den Umzug in das 1. Obergeschoss der ehemaligen Maschinenfabrik Christian Wandel in der Eberhardstraße 14 in Reutlingen. Dieser herausragende Industriebau des bekannten Stuttgarter Architekten Philipp Jakob Manz - heute „Wandel-Hallen“ genannt – mutierte Zug um Zug zum Ort für zeitgenössische Kunst und beherbergt außer dem Kunstverein Reutlingen das Kunstmuseum Reutlingen I konkret, das Kunstmuseum Reutlingen I Galerie sowie die Stiftung für Konkrete Kunst. Die baulich verbundene Shedhalle innerhalb des historischen Gebäudeensembles mit dem „Industriemagazin“ ist damit zugleich industriegeschichtlicher Erinnerungsort. Auf mehr als 1000qm Licht durchfluteter Fläche des ehemaligen Fabriklofts verfügt der Kunstverein Reutlingen über optimale Präsentationsmöglichkeiten.
Vorstand
Der Vorstand des Kunstvereins besteht satzungsgemäß aus 8 bis 12 Persönlichkeiten, die teilweise auch Künstler:innen sind. Vorstandsvorsitzende ist aktuell Dr. Aline Lukaszewitz. Frühere Vorstandsvorsitzende waren Wolfgang Riehle (2000-2021), Dr. Uwe-Jens Jasper (1984-2000), Walter Pöhler (1983-1984), Jürgen Hambrecht (1978-1983) und Alfred Hagenlocher (1953-1978). Ehrenvorsitzende waren Alfred Hagenlocher*, Dr. Uwe-Jens Jasper und Prof. Dr. Horst Locher. Im Mai 2021 wurde Wolfgang Riehle „als Zeichen seiner Würdigung und Anerkennung seines langjährigen und verdienstvollen Wirkens“ zum Ehrenvorsitzenden des Kunstvereins ernannt.
* Der Vorstand der Hans Thoma-Gesellschaft erklärt, dass die am 11. Oktober 1980 ausgesprochene Ernennung von Herrn Alfred Hagenlocher zum Ehrenvorsitzenden nicht satzungsgemäß und deshalb ungültig ist. Weshalb Alfred Hagenlocher ab 1981 dennoch als Ehrenvorsitzender geführt wurde bleibt unklar, da Dokumente hierzu nicht im Archiv auftauchen.
Geschäftsführung
Zu den Besonderheiten des Kunstvereins Reutlingen gehört eine hauptamtliche Geschäftsführung, die seit 2012 offiziell um die Funktion der Künstlerischen Leitung in Personalunion erweitert wurde. Die jeweiligen Amtsinhaber:innen haben im wesentlichen Anteil am Ausstellungsprogramm und seinem Erfolg.
Vor Dr. Julia Berghoff (seit 2023) leiteten den Kunstverein Reutlingen Imke Kannegießer (2019-2023), Julia Berghoff (Interimsgeschäftsführung von 2018-2019), Christian Malycha (2013-2018), Katrin Willert (2012-2013), Clemens Ottnad (2002-2012), Bernd Storz (1990-2001), Dr. Brigitte Uhde-Stahl (1989-1990), Werner Meyer (1986-1988), Dr. Anni Bardon (1982-1986), Friedhelm Röttger (1978-1982) und Alfred Hagenlocher (1953-1978).
Kooperationen
Der Kunstverein Reutlingen unterhält langjährige Kooperationen mit dem Städtischen Kunstmuseum Reutlingen (u. a. für die jährlich alternierenden Ausstellungsprojekte „Kunst Reutlingen“ und/oder „Xylon“), außerdem zur Reutlingen University (Fachbereich Design), dem Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Tübingen und der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart.
Die Ausstellungschronik ab 1953 finden Sie hier